Um die Kontinuität der Genese von bionomen und psychonomen Arten zu verstehen, muss man zentrale Prinzipien der Entstehung von Arten überhaupt verstehen. Es geht im Folgenden nicht darum, die Entstehung der Arten umfassend zu erläutern, sondern diese zentralen Prinzipien, die für die Psychonomie wesentlich sind, darzustellen.
Warum „Entstehung“ und „Genese“ statt „Evolution“ und „Entwicklung“?
Letztere Begriffe enthalten die Idee, dass ein Etwas vorhanden ist (z.B. ein Humunkuli), welches sich nur ent-wickeln muss. Wohl nicht ohne Grund hat Darwin selber seine Abhandlung „On the Origin of Species“ genannt, und das Wort Evolution in dieser Schrift in ganz anderer Bedeutung verwendet.
Zum anderen geht mit diesen Begriffen aufgrund der theologisch/philosophischen Tradition immer eine prädeterminierte, teleologische, mechanistische, monokausale (causa efficiens), monofinale (causa finalis) und über Stufen (scala naturae) ablaufende Entstehung einher.
Von einem Teil dieser Vorstellungen hat man sich zumindest in der Biologie verabschiedet, geht nicht mehr von einer teleologischen Entwicklung zu etwas Höherem, sondern von zunehmender Differenzierung der Lebensformen aus.
Aber wie kommt es zu dieser zunehmenden Differenzierung?
Biogenese
Nicht nur die Erde hat sich während ihres Entstehens hin zum heutigen Zustand massiv verändert. Die Biomasse, die im wesentlichen die Erde von z.B. dem Mond unterscheidet, hat es auch.
Zum einen hat sie zugenommen, wodurch man ein Ziel der belebten Natur in der Vermehrung (rein quantitativ) festlegen kann. Da Vermehrung nur möglich ist, wenn die Vorgängergeneration entsprechen lange überlebt, ist Überleben das zweite Ziel. Doch die Biomasse nahm ja seit dem Auftauchen der ersten Cyanobakterien nicht durch eine homogene Lebensform zu, sondern durch immer mehr verschiedene, immer differenziertere.
Zum Erreichen dieser beiden Ziele, Überleben und Vermehrung, gibt es nicht nur einen Weg, sondern bei verschiedenen Lebensformen sind die unterschiedlichsten teleonomen Strategien durch kontinuierliche Veränderung dieser Strategien entstanden.
Multidimensional-dynamisch statt monokausal-statisch
Jede Lebensform passt sich nicht nur an die bestehenden physikalischen, chemischen und biologischen Verhältnisse an, sondern verändert, modifiziert diese zum einen passiv, allein durch ihre Anwesenheit. Ohne Cyanobakterien kein Sauerstoff, ohne Pflanzen keine Pflanzenfresser, ohne Pflanzenfresser keine Beutegreifer und Aasfresser.
Zugleich verändern Lebensformen auch die Lebensbedingungen aktiv. Seien es die Nester für die Brut, Höhlen für den Winterschlaf, die Dämme der Biber …
Durch jede neue Lebensform wird die Biomasse komplexer, bietet immer mehr Chancen und Risiken, immer mehr physikalisch-chemisches Rauschen, aus dem die für Ernährung und Verteidigung notwendige Information extrahiert werden kann/muss. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, eine eigene Umwelt (in der Bedeutung von Jakob von Uexküll) zu konstruieren (in der Bedeutung von C. Llyod Morgan), werden immer komplexer.
„A much closer analogy is this: Something stands without and knocks at the doorway of sense, and from the nature of the knocks we learn somewhat concerning that which knocks. In other words, at the bidding of certain stimuli from without we construct that mental product which we call the object of sense. It is of these mental constructions—“constructs“ I will call them for convenience—that I have now to speak.“ (Morgan, C. Lloyd 1890/2015)
Ach hätten die Konstruktivisten doch einfach mal Uexküll und Morgan gelesen … statt das Rad neu zu erfinden.
Dass Lebensformen immer komplexer und differenzierter werden, ist somit die notwendige Folge der Entstehung der Arten selber. Mutatio per mutationem.
Wo greift die Auslese an? Beim Gen, dem Individuum oder der Population?
Die Frage ist schon falsch gestellt, und man kann allein deshalb keine vernünftige Antwort darauf finden. Was man wissen könnte, wenn man die „Englischen Empiriker“ (Lewes, Morgen, Romanes, … im Unterschied zu den Empiristen) gelesen hätte.
„We cannot be sufficiently on our guard in the use of abstractions, and especially against our tendency to confound ideal separations with real separations. It is this tendency which keeps up the tradition of Mind existing apart from Life, and following other laws.
We separate, for convenience, mental phenomena from other vital phenomena, and then again separate mental phenomena from neural phenomena; this done, we overlook the real identity, and do not see that every mental phenomenon has its corresponding neural phenomenon (the two being as the convex and concave surfaces of the same sphere, distinguishable yet identical), and that every neural phenomenon involves the whole Organism; by which alone the influence of the body on the mind, and of the mind on the body, can be explained.“ (Lewes, George H. 1874)
Die Analyse als Herausgreifen einzelner Teile ist notwendig, um die dem Gesamtsystem innewohnende Komplexität zu reduzieren.
Die Analyse unterscheidet, und das bewusst, das Untrennbare!
Die Analyse ist somit ein Fiktion im Sinne Vaihingers. Im Unterschied zu einer dogmatischen Trennung des Untrennbaren.
„The object and subject, involved in the sense-impression, are like the colour or the scent of a rose, distinguishable in thought but they are not separable in experience. We distinguish quite clearly the colour from the scent of the rose, but we know that they are inseparable in sense-experience. So we distinguish the objective and subjective aspects of the impression, but in the impression they are inseparable.“ (Morgan, C. Lloyd 1894/2005)
Variabilität und Zonen der Anpassungs- und Modifizierungsfähigkeit
Lebensformen sind nicht einfach statisch angepasst, sondern verfügen über unterschiedlich große Zonen der Anpassungsfähigkeit und Modifizierungsfähigkeit. Und das sowohl zwischen den Arten als auch aufgrund der Variabilität der Individuen durch die sexuelle Reproduktion auch innerhalb der Arten. Die Zonen der Anpassungs- und Modifizierungsfähigkeit (Zone of Adaptability ZoA, Zone of Modifiabilty ZoM) der Arten ergeben sich aus der Summe der Zonen der einzelnen Individuen.
Für die physiologische Zone der Anpassungsfähigkeit gibt Gregory Bateson folgendes Beispiel:
„In der somatischen Veränderung gibt es Tiefenabstufungen. Steigt ein Mensch von der Höhe des Meeresspiegels auf 4000 Meter im Gebirge, dann wird er, sofern er nicht über eine sehr gute Kondition verfügt, zu keuchen anfangen und sein Herz wird zu rasen beginnen. Diese unmittelbaren und reversiblen somatischen Veränderungen sind angemessen, um mit einer Notsituation fertigzuwerden, es wäre aber eine übertriebene Verschwendung von Flexibilität, das Keuchen und die Tachykardie als die bleibende Anpassung an die Gebirgsatmosphäre einzusetzen.“ (Bateson, Gregory 1984)
Geht der Mensch noch höher hinauf, wird irgendwann die Grenze, die die Zone seiner Anpassungsfähigkeit begrenzt, erreicht sein und es wird sich z.B. die Höhenkrankheit entwickeln.
Bleibt er dagegen längere Zeit auf 4.000 Meter wohnen, so wird sich erst seine Physiologie anpassen. Und dann über viele Generationen die Physiologie der Nachkommen.
„Anpassen“ heißt hier eine „Regression zur Mitte“, die nicht absolut, sondern relativ definiert ist. Eine Mitte der neu entstehenden Zone der Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Höhen. Die Bewohner des Hochgebirges werden dann beim Absteigen in tiefere Regionen physiologische Probleme bekommen.
Der „Erfolg“ der Anpassungsfähigkeit ist abhängig von dem Verhältnis der Zone der Anpassungsfähigkeit und der Kombination aus Geschwindigkeit und Umfang der Veränderung.
Bei den großen Massenaussterben war für den Großteil der Lebewesen der Umfang und die Geschwindigkeit der Veränderungen zu groß für ihre Zone der Anpassungsfähigkeit.
Aber die Zone der Anpassungsfähigkeit wird nicht nur durch die Physiologie bestimmt, sondern auch durch die verschiedenen Überlebens- und Fortpflanzungsstrategien.
Als Beispiel mögen hier die vielen verschiedenen Strategien zur Überdauerung des Winters dienen. Wie bei Zugvögeln, bei Tieren, die Winterschlaf halten und/oder Vorräte anlegen …
Zone of Modifiabilty
Wie bereits erwähnt verändert jede Lebensform automatisch die Biomasse, passiv und aktiv, direkt und indirekt. Man kann darüber streiten, ob Cyanobakterien oder Menschen die größte ZoM haben. Lebewesen mit großer ZoM werden in der Ökologie „Schlüsselarten“ genannt.
Diese unterschiedlichen Zonen sind zu verstehen als Unterscheidungen, aber nicht als Trennungen. Im Gegenteil sind diese Zonen miteinander interaktiv dynamisch interdependent, sind die Übergänge fließend. Der Mensch ist das wohl beste Beispiel, wie eine Erweiterung der ZoM durch Technik auch zu einer Vergrößerung der ZoA führt.
Beispiel in der Individualgenese: Vygotsky – Zone of proximal Genesis (Development)
Aufgrund der oben genannten Probleme bei den Begriffen der Evolution und Entwicklung, erlaube ich mir die von Vygotsky für die Individualgenese beschriebene „Zone der nächstliegenden Entwicklung“ (Zone of proximal development ZPD), in eine „Zone der nächstliegenden Genese“ (Zone of proximal Genesis ZPG) umzubenennen. Diese beschreibt Vygotsky wie folgt:
„…the zone of proximal development. It is the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers.“ (Vygotskij, Lev S. 1978)
„When we determine the level of actual development, we use tasks that require independent resolution. These tasks function as indices of fully formed or fully matured functions. How, then, do we apply this new method? Assume that we have determined the mental age of two children to be eight years. We do not stop with this however. Rather, we attempt to determine how each of these children will solve tasks that were meant for older children. We assist each child through demonstration, leading questions, and by introducing the initial elements of the task’s solution. With this help or collaboration from the adult, one of these children solves problems characteristic of a twelve year old, while the other solves problems only at a level typical of a nine year old. This difference between the child’s mental ages, this difference between the child’s actual level of development and the level of performance that he achieves in collaboration with the adult, defines the zone of proximal development.“ (Vygotskij, Lev S. 1988)
„Similarly, in normal children, learning which is oriented toward developmental levels that have already been reached is ineffective from the viewpoint of a child‘s overall development. It does not aim for a new stage of the developmental process but rather lags behind this process. Thus, the notion of a zone of proximal development enables us to propound a new formula, namely that the only „good learning“ is that which is in advance of development.“ (Vygotskij, Lev S. 1978)
Survival of the fittest?
Auch hier ist bekannt, dass diese Formulierung nicht vom Biologen Darwin, sondern vom Philosophen Herbert Spencer stammt. Und in dieser Primitivität schlicht falsch ist.
Zum einen tötet die Natur vor allem wahllos, wie C. Lloyd Morgan darlegt. Auch hier zeigt sich das Wissenschaftsmimikri von Philosophie und Psychologie anhand der fehlenden Recherche.
„The law of increase is a law of one factor in life’s phenomena, the reproductive factor. In any area, the conditions of which are not undergoing change, the numbers of the species which constitute its fauna remain tolerably constant. They are not actually increasing in geometrical progression. There is literally no room for such increase. The large birth-rate of the constituent species is accompanied by a proportionate death-rate, or else the tendency is kept in check by the prevention of certain individuals from mating and bearing young. Now, the high death-rate is, to a large extent among the lower organisms and in a less degree among higher animals, the result of indiscriminate destruction. … Those which are thus destroyed are nowise either better or worse than those which escape.“ (Morgan, C. Lloyd 1890/2015)
Wenn von tausend gelegten Eiern der Meeresschildkröten eines bis zur Geschlechtsreife überlebt, dann ist das das Überleben des Glücklichsten, also „survival of the luckiest“.
Zudem gibt es, wie Espinas und Kropotkin richtig darlegt haben, eben nicht nur diesen permanenten Kampf aller gegen alle. Und vor allem gibt es eine, auch artübergreifende, Kooperation.
„Nicht der Kampf ums Dasein, nicht die Vernichtung des Individuums ist der charakteristische Zug und die Bedingung des Lebens in demselben Körper und derselben Gesellschaft, sondern die Vereinigung, um diesen Kampf besser bestehen zu können, die Achtung des Individuums.“ (Espinas, Alfred Victor 1879)
„I failed to find — although I was eagerly looking for it — that bitter struggle for the means of existence, among animals belonging to the same species, which was considered by most Darwinists (though not always by Darwin himself) as the dominant characteristic of struggle for life, and the main factor of evolution.
On the contrary, a lecture „On the Law of Mutual Aid,“ which was delivered at a Russian Congress of Naturalists, in January 1880, by the well-known zoologist, Professor Kessler, the then Dean of the St. Petersburg University, struck me as throwing a new light on the whole subject. Kessler’s idea was, that besides the law of Mutual Struggle there is in Nature the law of Mutual Aid, which, for the success of the struggle for life, and especially for the progressive evolution of the species, is far more important than the law of mutual contest. This suggestion — which was, in reality, nothing but a further development of the ideas expressed by Darwin himself in The Descent of Man — seemed to me so correct and of so great an importance, that since I became acquainted with it (in 1883) I began to collect materials for further developing the idea, which Kessler had only cursorily sketched in his lecture, but had not lived to develop. He died in 1881.“ (Kropotkin, Petr Alekseevich 1902)
Und da es die verschiedensten Vermehrungs- und Überlebensstrategien gibt, so findet auch eine Auslese in verschiedenen Bereichen statt.
Ausgelesen werden zuerst einmal die Kranken und Schwachen. Was zum einen dem Arterhalt dient, zum anderen aber auch die Nachkommenschaft dem größten Risiko eines frühzeitigen Todes aussetzt.
Überleben tun die glücklichen Individuen, die nicht der wahllosen Zerstörung anheim gefallen sind, und deren ZoA und ZoM zudem bei Veränderungen ausreichen. Und die Arten, die genügend solcher Individuen zum Arterhalt haben.
Die Auslese erfolgt zudem in aller Regel nicht kontinuierlich, sondern durch den Wechsel von „guten Zeiten, schlechten Zeiten“. Auch hierzu einmal mehr C. Lloyd Morgan:
„Now, what would be the result of this alternation of good times and hard times? During good times varieties, which would be otherwise unable to hold their own, might arise and have time to establish themselves. In an expanding area migration would take place, local segregation in the colonial areas would be rendered possible, differential elimination in the different migration-areas would produce divergence. There would be diminished elimination of neutral variations, thus affording opportunities for experimental combinations. In general, good times would favour variation and divergence. …
Intermediate between good times and hard times would come, in logical order, the times in which there is neither an expansion nor a contraction of the life-area. One may suppose that these are times of relatively little change. There is neither the divergence rendered possible by the expansion of life-area, nor the heightened elimination enforced by the contraction of lifearea. Elimination is steadily in progress, for the law of increase must still hold good. Divergence is still taking place, for the law of variation still obtains. But neither is at its maximum. These are the good old-fashioned times of slow and steady conservative progress.
… and it is not at all improbable that we are ourselves living in such a quiet, conservative period.“
(Morgan, C. Lloyd 1890/2015)
Als Beispiel mögen Fuchs und Wolf dienen, die beide der gleichen Familie angehören, sensorisch und physiologisch in gleichen „Umwelten“ (Uexküll) und gleichen Habitaten leben.
Der Unterschied liegt vor allem in den Vermehrungs- und Überlebensstrategien. Während die Fuchsfähe ihre Welpen alleine aufzieht und Füchse solitär leben und jagen, geschieht dies bei den Wölfen im Rudel. Weshalb Wölfe, neben der primären Soziogenese, dem Attachment, welches sich notwendiger Weise bei allen Säugetieren aber auch anderen Arten findet, zusätzlich eine zweite, sekundäre Soziogenese im Rudel durchlaufen.
Im voraus lässt sich nicht sagen, welche dieser Strategien „fitter“ ist, eine größere ZoA hat. Dies wird sich erst durch Art und Umfang einer Veränderung, während schlechter Zeiten zeigen.
Auch wenn ich annehme, dass es die Wölfe sein werden, da sie über das Rudel zum Aufbau stabilerer und komplexerer Kulturen (hier als sozial weitergegebenes Wissens um die Welt, von Strategien) sind als die Füchse, wo diese Wissen nur wesentlich kürzer und nur von der Fähe an die Welpen weitergegeben werden kann. (siehe auch www.dogmatismus.info)
„On the other hand, hard times would mean increased elimination.
Elimination by competition, passing in this way into elimination by battle, would, during hard times, be increased.
“ (Morgan, C. Lloyd 1890/2015)
Dies kann einem zum Trost dienen, dass Orchideenfächer wie „gender studies“ auf natürliche Weise zugrunde gehen werden. (siehe auch: Spiro, Melford E. 1979 – Gender and Culture: Kibbutz Women Revisited)
Innerartliche, sexuelle Selektion
Es mag an der Prüderie der vergangenen beiden Jahrhunderte liegen, dass diese Form der von Darwin erläuterten Selektion weitgehend unterschlagen wurde und wird.
Für die Psychonomie ist die sexuelle Selektion insofern von Interesse, als über sie manche Auswüchse der westlichen Überflussgesellschaften eine Erklärung finden.
SUVs sind die Hirschgeweihe der Städter.
Und auf amüsantere Weise findet sich Balzverhalten auch beim Menschen. Das traditionelle Aufstellen eines Maibaum in Süddeutschland ist ein kollektives Balzverhalten, wie es sich analog auch bei den Maibaum-Laubenvögeln findet.